Vorwort

Eloain Lovis Hübner, künstlerische Leitung

Liebes Publikum,

herzlich willkommen zum Musik 21 Festival 2023 KIPPPUNKTE! Auch an die mitwirkenden Künstler:innen aus Niedersachsen, Berlin, Leipzig, Stuttgart, Kopenhagen und Oslo: Wie schön, dass ihr vier Tage lang hier in Hannover zusammenkommt, im Kulturzentrum FAUST, wo wir zum zweiten Mal zu Gast sein dürfen und uns schon ein bisschen zuhause fühlen. Ich möchte Ihnen und euch einige Gedanken zum Festivalmotto mit auf den Weg geben:

KIPPPUNKTE lassen sich grundsätzlich in allen möglichen Zusammenhängen ausmachen: überall dort, wo ein Zustand durch Einwirkung bestimmter Faktoren so stark instabilisiert wird, dass er in einen anderen Zustand umschlägt, in der Regel irreversibel.

Ich denke dabei an das Konzept der Kritischen Masse, das – aus der Physik übernommen – oft herangezogen wird, um zu beschreiben, eine wie große Anzahl an Menschen bzw. ein wie großer Anteil der Bevölkerung mindestens benötigt wird, um einen gesamtgesellschaftlichen Wandel anzustoßen. Ich denke an platzende Spekulationsblasen, denen Wirtschaftskrisen folgen.

Ich denke an ganz persönliche, biographische KIPPPUNKTE, an denen ein Mensch beschließt (oft infolge eines lang aufgebauten Leidensdrucks), etwas in seinem Leben grundsätzlich zu ändern.

Ich denke an Epochenumschwünge in den Künsten und Geisteswissenschaften, an denen wir historische Paradigmenwechsel ablesen können: Die umfassende Erneuerung der westlichen Welt in der Renaissance, die abenteuerliche Vielfalt der Künste zwischen Spätbarock, Sturm und Drang, Galanterie, Empfindsamkeit und Klassizismus in der aufklärerisch-revolutionären Ära, die romantische Explosion der Expressionen im Frühkapitalismus der Industrialisierung. Ich denke an singuläre Ereignisse des 20./21. Jahrhunderts, nach denen die Welt nicht mehr dieselbe war (aus meinen Beispielen spricht freilich eine europäisch-westliche Sicht): Der Zusammenbruch der monarchisch-kolonialen Machtverhältnisse, die globale Katastrophe des nationalsozialistischen Angriffskriegs und Terrors, das Ende des Eisernen Vorhangs, die Anschläge vom 11. September 2001, der russische Einmarsch in die Ukraine.
Ich denke im Kontext der modernen Physik an den Schwarzschildradius – diejenige Grenze, die den Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs vom Raumzeitkontinuum seiner Umgebung trennt, über die hinweg also keinerlei Austausch von Licht, Informationen und Kausalzusammenhängen möglich ist. Ich denke an kleinste Ereignisse am Beginn von Kettenreaktionen, die zu Katastrophen gigantischen Ausmaßes führten: die weltweit live übertragene Explosion des Space Shuttles Challenger, die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl (beide 1986), der Concorde-Absturz (2000) und viele mehr. Mir fällt auf, dass es sehr viele Begrifflichkeiten gibt, die sowohl in der Physik als auch in der Soziologie vorkommen, dass der KIPPPUNKT-Terminus derzeit vor allem in Bezug a) auf die Klimakrise und b) auf gesellschaftliche Kritische Massen verwendet wird.
Ich denke an verwandte Ausdrücke, die weitere Assoziationen zulassen: Schwellenmoment, Point of no return …

In den KIPPPUNKTEN steckt das dreifache P: ppp – in der Musik steht das für piano pianissimo, „sehr, sehr leise“. KIPPPUNKTE kündigen sich nicht laut an, haben keine klare Kontur oder Form. Das macht sie so schwer greifbar und so einfach zu leugnen oder zu ignorieren. Wir erleben, wie massiv gegen die Existenz der Klimakrise angeschrien wird, anstatt sie wirksam zu bekämpfen – als könnte Lautstärke, könnten Vereinfachungen, Polemiken und Beleidigungen ein Problem, das man nicht wahrhaben möchte, aus der Welt schaffen. Wir wissen, dass die leisen Töne und Klänge mitunter die größte Wirkung haben können, dass das Summen der Insekten und das Zwitschern der Vögel uns mitunter am stärksten bewusst wird, wenn es nicht mehr zu hören ist; dass die leisen Menschen oft unbeirrbar und unauffällig „ihr Ding machen“, während die lauten sich aneinander aufreiben und erschöpfen. Den meisten KIPPPUNKTEN gehen längere Entwicklungen voraus, unübersehbar oder versteckt, sie kommen mit leisen, aber unaufhaltbaren Schritten – egal, wie laut wir uns einreden, mit uns hätten sie gar nichts zu tun (das gilt für ökologische und soziale KIPPPUNKTE ebenso wie für biographische, an die jeder Mensch unweigerlich irgendwann gelangt).
Vorbereitet sind wir freilich besser, wenn wir ihnen von vornherein unsere Aufmerksamkeit schenken, uns sensibilisieren für ihre Erscheinungsformen und diejenigen der Prozesse, die zu ihnen führen. Dabei kann uns die Neue Musik mit ihren leisen und lauten Klängen, ihren Zwischentönen, ihrem Spiel mit Hinter- und Vordergrund, Klar- und Diffusheit, Schatten und Licht inspirieren. Sie erinnert uns an die Komplexität der Verflechtungen in der Welt und daran, dass es in jeder noch so unruhigen Zeit Anlässe gibt, zu verweilen, unsere eingebauten optischen und akustischen Vergrößerungsgläser (und die aller anderen Sinne) auf die kleinen Punkte und kurzen Momente einzustellen, sie festzuhalten, weil sich uns in jedem einzelnen von ihnen vielleicht eine kleine Utopie eröffnen kann …

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen aufregende, sinnliche und erkenntnisreiche Musikerlebnisse!