Die alten Griechen unterschieden zwei Arten von Zeit, die menschengemachte »Chronos« und die natürliche Zeit. Tage und Jahre verlaufen zyklisch, doch durchleben wir Menschen auch eine lineare Entwicklung. Je älter wir werden, desto häufiger blicken wir zurück und reflektieren unsere Erfahrungen und Erlebnisse. Dabei ist die zyklische Struktur von Tag und Jahr für unsere Wahrnehmung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein unabdingbarer Kompass.
Aktuell - es ist kaum zu leugnen - durchleben wir eine krisenbehaftete Zeit. Pandemie, Krieg und Klimakrise lassen uns in eine ungewisse Zukunft blicken. Es bleibt die große Herausforderung, weder den Kopf in den Sand zu stecken noch in Panik zu geraten. Kunst und Kultur kann dabei helfen, das eigene Leben und die Welt um uns herum zu begreifen und individuelle Antworten auf die großen Fragen des Lebens zu finden. In diesem Sinne haben wir uns auf den Weg gemacht, ein inspirierendes Programm über den Lauf des Lebens, über die zyklische, aber auch die gnadenlos fortschreitende Zeit aufzustellen, das in vielerlei Hinsicht zum Nachdenken und Reflektieren anregt.
»The Passing of the Year« ist ein zeitgenössischer Liedzyklus für achtstimmiges Vokalensemble und Klavier von Jonathan Dove und bildet den Kern des Konzertprogramms. Mit vertonten Gedichten von William Blake, Emily Dickinson, George Peele, Thomas Nashe und Alfred Lord Tennyson beschreibt Dove in sieben Sätzen den Jahreslauf vom Aufblühen des Frühlings und der sich belebenden Natur über die triumphale Ankunft des Sommers mit all seiner Schönheit und schwülen Hitze bis hin zum herbstlichen Gefühl der Sterblichkeit und schließlich zur winterlichen Silvesternacht, in der das neue Jahr feierlich eingeläutet wird. Beim genaueren Hinhören offenbart sich allerdings noch eine zweite, tiefere Ebene der Komposition: Nicht nur der Wandel der Jahreszeiten wird hier besungen, es ist das Leben selbst in all seinen Facetten, mit seinen allumfassenden Erfahrungen von Liebe und Lust, von Trauer und Tod, das hier verhandelt wird. So wird das Werk zur Hymne an das Leben.
Diesem Jahres- und Lebenszyklus sind Werke für Klavier (solo) und Vokalensemble (a cappella) vorangestellt, die sich in ähnlicher Weise mit den Zusammenhängen von Tages- und Jahreszeit und menschlicher Lebenswelt auseinandersetzen. Zu Beginn stehen die vier Quartette op. 92 von Johannes Brahms, die von romantischen Nachtstimmungen über melancholische Herbstreflexionen zu einem sanften Ausdruck der Hoffnung und Wunschträume überleiten. „Organisme“, der zweite Satz aus dem Werk „Dichotomie“ für Klavier vom zeitgenössischen Komponisten Esa-Pekka Salonen, verkörpert eine langsam und tief atmende Musik, in der alle Abschnitte organisch ineinander übergehen und kontinuierlich wachsen. Salonen hatte tatsächlich eine Metapher im Sinn: „Ein Baum, nicht ein riesiger, sondern eher eine schlanke Weide, die sich anmutig im Wind bewegt, aber immer wieder zu ihrer ursprünglichen Form und Position zurückkehrt.“
Anschließend folgt ein Jahreszyklus von Frühling bis Winter, stilistisch vielseitig zusammengestellt mit Werken der klassischen Moderne von Ernst Krenek, Veljo Tormis, Lili Boulanger, Frank Bridge und Francis Poulenc. Das zeitlos schwebende »Claire de lune« von Claude Debussy lädt vor dem zweiten Jahreszyklus von Jonathan Dove zum Innehalten ein, zu einem Moment der Ruhe und Einkehr. Einmal steht sie hier still, die Zeit, bevor sie in Doves Passing of the Year zu einem kraftvollen Galopp anläuft. Kaum ein Wesen, kaum ein Zustand wirkt auf uns rätselhafter und mythischer als die Zeit.
An dieser Stelle möchten wir uns einmal herzlich beim Veranstalter „Voktett Hannover – Verein zur Förderung der Vokalmusik e.V.“, bei den örtlichen Kooperationspartnern sowie den Förderinstitutionen bedanken, ohne die wir solche besonderen Konzertprogramme nicht verwirklichen könnten.
Wir wünschen Ihnen ein erlebnisreiches Konzert und uns allen viel Freude an wunderbarer Musik für Klavier und Vokalensemble.
Esther Tschimpke - Sopran I
Felicia Nölke - Sopran II
Lea Wolpert - Alt I
Ida Barleben - Alt II
Steffen Kruse - Tenor I
Justus Barleben - Tenor II
Sebastian Knappe- Bass I
Steffen Schulte - Bass II
Yoonjee Kim - Klavier
1. O schöne Nacht (Georg Friedrich Daumer)
O schöne Nacht!
Am Himmel märchenhaft
Erglänzt der Mond in seiner ganzen Pracht;
Um ihn der kleinen Sterne liebliche
Genossenschaft.
Es schimmert hell der Tau
Am grünen Halm; mit Macht
Im Fliederbusche schlägt die Nachtigall;
Der Knabe schleicht zu seiner Liebsten sacht –
O schöne Nacht!
3. Abendlied (Friedrich Hebbel)
Friedlich bekämpfen
Nacht sich und Tag.
Wie das zu dämpfen,
Wie das zu lösen vermag!
Der mich bedrückte,
Schläfst du schon, Schmerz?
Was mich beglückte,
Sage, was war’s doch, mein Herz?
Freude wie Kummer,
Fühl ich, zerrann,
Aber den Schlummer
Führten sie leise heran.
Und im Entschweben,
Immer empor,
Kommt mir das Leben
Ganz wie ein Schlummerlied vor.
2. Spätherbst (Hermann Allmers)
Der graue Nebel tropft so still
Herab auf Feld und Wald und Heide,
Als ob der Himmel weinen will
In übergroßem Leide.
Die Blumen wollen nicht mehr blühn,
Die Vöglein schweigen in den Hainen,
Es starb sogar das letzte Grün,
Da mag er auch wohl weinen.
4. Warum doch erschallen
(Johann Wolfgang von Goethe)
Warum doch erschallen
himmelwärts die Lieder?
Zögen gerne nieder
Sterne, die droben
Blinken und wallen,
Zögen sich Lunas
Lieblich Umarmen,
Zögen die warmen,
Wonnigen Tage
Seliger Götter
Gern uns herab!
Friedrich Hölderlin
Der Mensch vergißt die Sorgen aus dem Geiste,
Der Frühling aber blüht, und prächtig ist das meiste,
Das grüne Feld ist herrlich ausgebreitet,
Da glänzend schön der Bach hinuntergleitet.
Die Berge stehn bedecket mit den Bäumen,
Und herrlich ist die Luft in offnen Räumen,
Das weite Tal ist in der Welt gedehnet
Und Turm und Haus an Hügeln angelehnet.
Kuskil küla taga vainul
pillihelin, pidujutt.
Kõmin metsas, kaja kaugel –
noore suve muinasjutt.
Ja nad laulvad vallatades –
„Oh sa pühajärveke…”
Käsi kätt nii pigistades –
“Armas oled minule …”
Valgel ööl on tuhat armu,
Tuhat kokku mõistmata,
Öö ja õnn ei kesta kaua –
Tõtta õnne otsima.
Ja nad laulvad vallatades,
laulvad kütked südame –
Oh sa pühajärvekene,
armas oled minule …
Irgendwo hinterm Dorfe auf der Weide
hört man Musik, Festtagsreden.
Schallt im Walde, hallt wider –
das Märchen des jungen Sommers.
Und sie singen unbeschwert –
„Ach du lieber, heiliger See“
Hand in Hand mit festem Druck –
„Hab’ dich lieb …“
Weiße Nächte haben tausend Lieben,
Unnütz alle aufzuzählen,
Nacht und Glück sind nicht von Dauer –
Beeile Dich um Glück zu suchen.
Und sie singen voller Lust,
singen voll brennendem Herzen –
„Ach du lieber, heilger See“
„Hab’ dich lieb …“
Auguste Lacaussade (1817 - 1897)
Du soleil qui renaît bénissons la puissance.
Avec tout l'univers célébrons son retour.
Couronné de splendeur, il se lève, il s'élance.
Le réveil de la terre est un hymne d'amour.
Sept coursiers qu'en partant le Dieu
contient à peine,
Enflamment l'horizon de leur brûlante haleine.
O soleil fécond, tu parais!
Avec ses champs en fleurs, ses monts,
ses bois épais,
La vaste mer de tes feux embrasée,
L'univers plus jeune et plus frais,
Des vapeurs de matin sont brillants de rosée.
Lasst uns die Macht der wiederkehrenden Sonne preisen.
Mit dem ganzen Universum wollen wir Ihre Rückkehr feiern.
Mit Glanz gekrönt, erhebt sie sich, schwingt sie sich empor.
Das Erwachen der Erde ist ein Liebeslied.
Sieben Rösser, die die Gottheit zu Beginn kaum zügeln kann,
entflammen den Horizont mit ihrem brennenden Atem.
O fruchtbare Sonne, du erscheinst!
Mit ihren blühenden Feldern, ihren Bergen,
ihren dichten Wäldern,
Dem weiten Meer, das durch dein Feuer glutrot gefärbt ist,
ist die Welt verjüngt und frischer,
der Morgendunst glitzert von Tau.
Percy Bysshe Shelley (1792-1822)
The warm sun is failing, the bleak wind is wailing,
The bare boughs are sighing,
the pale flowers are dying,
And the Year
On the earth her death-bed,
in a shroud of leaves dead,
Is lying.
Come, Months, come away,
From November to May,
In your saddest array;
Follow the bier
Of the dead cold Year,
And like dim shadows watch by her sepulchre.
The chill rain is falling, the nipped worm is crawling,
The rivers are swelling, the thunder is knelling
For the Year;
The blithe swallows are flown,
and the lizards each gone
To his dwelling;
Come, Months, come away;
Put on white, black, and gray;
Let your light sisters play--
Ye, follow the bier
Of the dead cold Year,
And make her grave green with tear on tear.
Die warme Sonne versagt, der düstere Wind klagt,
Die kahlen Zweige seufzen,
die blassen Blumen sterben,
Und das Jahr
Auf der Erde ihr Totenbett,
in einem Leichentuch aus toten Blättern,
liegt sie.
Kommt, Monate, kommt herbei,
Von November bis Mai,
In eurer traurigsten Aufmachung;
Folgt der Bahre
Des toten kalten Jahres,
Und wie trübe Schatten wacht an ihrem Grabmal.
Der kalte Regen fällt, der erfrorene Wurm kriecht,
Die Flüsse schwellen an, der Donner läutet
Für das Jahr;
Die fröhlichen Schwalben sind fortgeflogen,
und die Eidechsen sind
in ihre Behausung gegangen;
Kommt, Monate, kommt herbei;
Tragt Weiß, Schwarz und Grau;
Lasst eure leichten Schwestern spielen -
Ihr, folgt der Bahre
Des toten kalten Jahres,
Und macht ihr Grab grün mit Träne um Träne.
Paul Eluard (1895-1952)
De grandes cuillers de neige
Ramassent nos pieds glacés
Et d’une dure parole
Nous heurtons l’hiver têtu
Chaque arbre a sa place en l’air
Chaque roc son poids sur terre
Chaque ruisseau son eau
Nous, nous n’avons pas de feu
La bonne neige le ciel noir
Les branches mortes la détresse
De la forêt pleine de pièges
Honte à la bête pourchassée
La fuite en fleche dans le coeur
Les traces d’une proie atroce
Hardi au loup et c’est toujours
Le plus beau lopup et c’est toujours
Le dernier vivant que menace
La masse absolue de la mort
Bois meurtri bois perdu
D’un voyage en hiver
Navire où la neige prend pied
Bois d’asile bois mort
Où sans espoir je rêve
De la mer aux miroirs crevés
Un grand moment d’eau froide
A saisi les noyés
La foule de mon corps en souffre
Je m’affaiblis je me disperse
J’avoue ma vie
J’avoue ma mort
J’avoue autrui
La nuit le froid la solitude
On m’enferma soigneusement
Mais les branches cherchaient
Leur voie dans la prison
Autour de moi l’herbe trouva le ciel
On verrouilla le ciel
Ma prison s’écroula
Le froid vivant le froid brûlant
M’eut bien en main
Große Kellen voll Schnee
Nehmen unsere eisigen Füße mit
Und mit hartem Wort
Schlagen wir den dickköpfigen Winter
Jeder Baum hat seinen Platz in der Luft
Jeder Fels sein Gewicht auf der Erde
Jeder Bach sein lebendiges Wasser
Wir, wir haben kein Feuer
Der gute Schnee der schwarze Himmel
Die toten Zweige die Verzweiflung
Des Waldes voller Fallen
Schmach über das gehetzte Tier
Die Flucht schnell wie ein Pfeil ins Herz
Die Spuren einer schrecklichen Beute
Kühn gegenüber dem Wolf und es ist immer
Der schönste Wolf und es ist immer
Der letzte Lebende bedroht durch
Die absolute Masse des Todes
Verwundeter Wald verlorener Wald
Einer Reise im Winter
Schiff, in dem der Schnee Fuß fasst
Wald der Zuflucht toter Wald
In dem ich ohne Hoffnung träume
Vom Meer aus zerbrochenen Spiegeln
Ein großer Moment kalten Wassers
Hat die Ertrunkenen ergriffen
Die Masse meines Körpers leidet darunter
Ich werde schwächer ich zersplittere
Ich bekenne mein Leben
Ich bekenne meinen Tod
Ich bekenne andere
Die Nacht die Kälte die Einsamkeit
Man schloss mich sorgsam ein
Aber die Zweige suchten sich
Ihren Weg ins Gefängnis
Um mich herum fand das Gras den Himmel
Man riegelte den Himmel ab
Mein Gefängnis stürzte ein
Die lebendige Kälte, die brennende Kälte
Hatte mich fest in der Hand
1. Invocation (William Blake)
O Earth, O Earth, return!
2. The narrow bud opens her beauties to the sun
(William Blake)
The narrow bud opens her beauties to
The sun, and love runs in her thrilling veins;
Blossoms hang round the brows of morning, and
Flourish down the bright cheek of modest eve,
Till clust’ring Summer breaks forth into singing,
And feather’d clouds strew flowers round her head.
The spirits of the air live on the smells
Of fruit; and joy, with pinions light,
roves round the gardens,
or sits singing in the trees.
3. Answer July (Emily Dickinson)
Answer July –
Where is the Bee –
Where is the Blush –
Where is the Hay?
Ah, said July –
Where is the Seed –
Where is the Bud –
Where is the May –
Answer Thee – Me –
Nay – said the May –
Show me the Snow –
Show me the Bells –
Show me the Jay!
Quibbled the Jay –
Where be the Maize –
Where be the Haze –
Where be the Bur?
Here – said the Year –
4. Hot sun, cool fire (George Peele)
Hot sun, cool fire, temper’d with sweet air,
Black shade, fair nurse, shadow my white hair:
Shine, sun; burn, fire;
breathe, air, and ease me; Black shade,
air nurse, shroud me and please me:
Shadow, my sweet nurse,
keep me from burning,
Make not my glad cause,
cause of [my] mourning.
Let not my beauty’s fire
Enflame unstaid desire,
Nor pierce any bright eye
That wand’reth lightly.
5. Ah, Sun-flower! (William Blake)
Ah, Sun-flower! weary of time,
Who countest the steps of the Sun,
Seeking after that sweet golden clime
Where the traveller’s journey is done:
Where the Youth pined away with desire,
And the pale Virgin shrouded in snow
Arise from their graves, and aspire
Where my Sun-flower wishes to go.
6. Adieu! farewell earth’s bliss!
(Thomas Nashe)
Adieu! farewell earth’s bliss!
This world uncertain is:
Fond are life’s lustful joys,
Death proves them all but toys.
None from his darts can fly:
I am sick, I must die –
Lord, have mercy on us!
Rich men, trust not in wealth,
Gold cannot buy you health;
Physic himself must fade;
All things to end are made;
The plague full swift goes by:
I am sick, I must die –
Lord, have mercy on us!
Beauty is but a flower
Which wrinkles will devour:
Brightness falls from the air;
Queens have died young and fair
Dust hath closed Helen’s eye:
I am sick, I must die –
Lord, have mercy on us!
7. Ring out, wild bells (Alfred Lord Tennyson)
O Earth, O Earth, return!
Ring out, wild bells, to the wild sky,
The flying cloud, the frosty light:
The year is dying in the night;
Ring out, wild bells, and let him die.
Ring out the old, ring in the new,
Ring, happy bells, across the snow:
The year is going, let him go;
Ring out the false, ring in the true.
Ring out the grief that saps the mind,
For those that here we see no more;
Ring out the feud of rich and poor,
Ring in redress
to all mankind.
Ring out the want, the care, the sin,
The faithless coldness of the time;
Ring out, ring out my mournful rhymes,
But ring the fuller minstrel in.
Ring out old shapes of foul disease;
Ring out the narrowing lust of gold;
Ring out the thousand wars of old,
Ring in the thousand years of peace.