09
18:00
Warenannahme
Ticket kaufen

Sophia Körber & Yun Qi Wong (Liedduo)

"Lied-Rückung - Wenn die Stimmung kippt oder: Rezept zum Durchdrehen"

© Rüdiger Schestag

Wenn die Stimmung kippt, die Figuren und Lyrischen Ichs unserer Liedauswahl in seelische Abgründe, Stimmungen, Emotionen und Entgleisungen geraten, dann sind wir mitten in einer Lied-Rückung. Ent- und ver-rückte Lieder über Grenzerfahrungen, voller Expressivität, Dada und Gaga ergeben ein rundum geladenes musikalisches Rezept zum Durchdrehen.

Rezept zum Durchdrehen:

Sie suchen nach einem Weg zum Umkippen? Das ist ganz einfach: Als Erstes empfehlen wir, Emotionen zuzulassen. Sei es Freude, Enttäuschung, Genuss, Liebe, Trauer. Je intensiver, desto besser! Sie werden merken, wie das Organ namens Herzens in Ihnen anfängt, sich lebendiger zu fühlen. Häufige Nebenwirkungen: kurzzeitiges Ziehen, Stechen und Pochen. Das große Ziel, das Durchdrehen, haben Sie dann erreicht, wenn Ihr Puls schneller wird und Sie nicht mehr klar denken können. Herzlichen Glückwunsch – Sie stehen genau vor einem Kipppunkt!

Alternativ empfiehlt sich die Anschaffung einer Maschine, zum Beispiel ein Mobilfunkgerät oder Rechner, am Besten mit Zugang zum Internet. Geben Sie sich einfach voller Hingabe und Vertrauen diesen Maschinen hin, lassen Sie ihnen freien Lauf und übergeben Sie die Kontrolle über Ihr Leben an sie. Keine Sorge: das geht schnell und reibungslos und macht Ihr Leben viel bequemer. Plötzlich stehen Sie also schon vor dem nächsten Kipppunkt.

Zum guten Schluss nehme man einen Schuss Mut gepaart mit einer Prise Nonchalance, denn: No Risk, No Fun! Probieren Sie es einfach aus, und schauen Sie, wie weit Sie über Ihre persönlichen Grenzen hinausgehen können. Sie werden bald merken, was für Sie früher tabu war, ist nach beispielsweise einer ordentlichen Portion Rotwein, dem Besuch unseres Liederabends oder Nutzung eines Toys gar kein Thema mehr.

Ihre persönliche Reise ins Umkippen begleiten wir gerne mit einem musikalischen Degustationsmenü, zusammengewürfelt aus Momenten des Loslassens und emotionaler Grenzgänge von dem singapurischen Komponisten Americ Goh, Momenten seelischer Abgründe von Hermann Reutter, der sinnlichen dadaistischen Welt der hannoverschen Komponistin Snezana Nesic und Eliazer Kramer aus Kanada. Gewürzt wird es mit der brandheißen, schwindelerregenden Mini-Oper “Taumel der Trennung” von Michael Maria Ziffels und einem knusprigen Klaviersolo-Werk von Johannes Schöllhorn. Achtung: Hör-Verzehr auf eigene Gefahr!

Programm

Johannes Schöllhorn Lutheal für Klavier Solo
Americ Goh
(*1982)
Little Deaths for Female Voice (E.E. Cummings)
2021 „Version Sophia“ – URAUFFÜHRUNG
Snezana Nesic
(*1972)
MELTDOWN II
Lieder für hohe Sopranstimme und Klavier 2020/2021:
1) Trommellied für verliebte Immigranten
2) Chanson pour la fin du temps
3) Lady Dada von Berlin Kreuzberg
Eliazer Kramer Clitoris Magnificus
(Version für Sopran und Klavier 2020/2021)
Hermann Reutter
(1900-1985)
Drei Lieder der Ophelia (Shakespeare) 1980:
I Wie erkenn' ich dein Treulieb vor den andern nun?
II Auf morgen ist Sankt Valentinstag
III Sie trugen ihn auf der Bahre bloß
Hermann Reutter
(1900-1985)
Winterabend (Keller), Op. 59/7
Moritz Eggert
(*1965)
Aus “Singet leise”:
Liebeslied
Moritz Eggert
(*1965)
Menschen bei Nacht
Americ Goh URAUFFÜHRUNG
7 Songs about Men (D.H. Lawrence) 2017:
Men and Machines
What Have They Done To You?
The People
The Lizard
The Difference
Cowards
People
Michael Maria Ziffels Taumel der Trennung
(UA 2023, Zweitaufführung im Rahmen von M21)

Einführung in die einzelnen Werke

Johannes Schöllhorn | luthéal

Präparation des Flügels mehrere längliche metallische Objekte (Konservendosen, Blechdosen, Leisten, Lineale, lange Schrauben etc.) frei verteilt auf die Saiten legen; die Objekte sollen so groß sein, dass sie nicht zwischen den Saiten oder am Rahmen hindurchfallen können; ein größerer Teil der Saiten soll mit Objekten belegt sein, aber nicht alle (ein kleinerer Teil der Saiten soll folglich frei sein); die Metallobjekte sollen nicht fixiert werden, beim Anschlag ist es möglich und erwünscht, dass sie sich bewegen; angestrebt ist ein vielfarbig klirrend-scheppernder Klang, der teilweise die originalen Tonhöhen erkennen lässt, dazwischen sollen einzelne normale Töne erscheinen; der Präparationsvorgang vor und die Entfernung der Präparation nach dem Spiel ist Teil des Stücks; die Fermaten können, je nach Nachklang, länger als angegeben sein, die Proportion der Dauern der Fermaten (2:1:4) soll möglichst bewahrt werden; "luthéal" kann, sollte die Präparation des Flügels nicht erlaubt sein, in Ausnahmefällen auch ohne Präparation gespielt werden;

Americ Goh | Little Deaths

(E. E. Cummings)

E. E. Cummings Gedicht regt unsere Phantasie und Sinne durch Ausdruck und Klang an. Mit diesem Ausgangspunkt für die Komposition habe ich mir die Freiheit erlaubt, den Subtext in einem Rahmen in Frage zu stellen, der so wenig programmatisch wie möglich ist. Und doch ist „ein“ Rahmen vielleicht ungenügend (manchmal sehnen wir uns nach mehr). Die Freiheit in dem Kompositionsprozess ermöglicht es, unterschiedliche Versionen für jeden Auftritt neu zu komponieren und jede Version darf aus einer beliebigen Anzahl und Anordnung der Musikzellen bestehen. Die „Variationen“ -- Permutationen jeder Zelle, sind uns so natürlich, indem jene winzig kleinen Änderungen, aus denen die Vielfältigkeit besteht, zu unserer Vorfreude beitragen. Die Behandlung des Rahmens als vollkommen ist eine Fallstudie, in der die angeborene, unterbewusste Interpretation in Frage gestellt wird, wegen der Assoziationen, die wir als Zuhörer haben. Der innere Konflikt der Darstellerin, nicht bewusst das Offensichtliche auszudrücken, sondern zuzulassen, dass die Eigenschaften der Klänge bestimmte Assoziationen andeuten, verbindet uns alle einzeln, persönlich, und körperlich!

Es ist vielleicht Tabu, zu viel ins Detail zu gehen. Zügele die Schüchternheit, überlasse es deiner Phantasie und erlebe es, wohin dein Sinn dich beim Anhören führt. Und vielleicht sind manche der Klänge allzu vertraut – vor allem wenn du jenen kleinen Tod mal erlebt hast?

Werktext von Americ Goh, Übersetzung Yun Qi Wong

Moritz Eggert | singet leise

„singet leise“ sind 6 Lieder nach ausgewählten Gedichten von Brentano und Rilke, geschrieben für die Liederwerkstatt Bad Kissingen. Meine Beschäftigung mit dem Genre Lied birgt für mich immer neue Entdeckungen, und in gewisser Weise hat mich der Ton dieser Lieder selbst beim Schreiben überrascht. Vielleicht sind sie gleichzeitig eine Spur zurückgenommener und eine Spur obsessiver als meine bisherigen Arbeiten für Stimme und Klavier. Auf fast natürliche Weise fließen die Texte der beiden sehr unterschiedlichen Dichter Brentano und Rilke ineinander, in Gedichten, die stets von Verlust und unterschwelligen Sehnsüchten handeln. Die von mir oft verwendeten Zusatzinstrumente werden diesmal fast ausschließlich von der Sängerin verwendet, die auch nicht unbedingt wie üblich vor dem Flügel steht, sondern neben dem Pianisten sitzen könnte. Beabsichtigt ist eine größere Konzentration auf die Musik selber, frei von den Ritualen eines gewöhnlichen Liederabends. „singet leise“ ist hier fast ein ironischer Titel, denn tatsächlich interessierten mich besonders die extremsten Kontraste, die von pianissimo bis fortissimo bei Stimme und Klavier möglich sind. Die Musik beißt sich förmlich in Ostinato-Passagen fest und lässt nicht mehr los. Dieser Schwebezustand zwischen Rausch und Strenge, zwischen Traum und Wachen, der Versuch der Artikulation des musikalisch Unbewussten birgt für mich ein großes Potential, das ich in meinen nächsten Stücken weiter erforschen möchte. Exemplarisch hierfür ist das „Liebeslied“ nach Rilke, das spielerisch Möglichkeiten des Popsongs mit denen des Kunstlieds verbindet.

Moritz Eggert, 7.6.2011/30.1.2022

Hermann Reutter | Drei Lieder der Ophelia und Winterabend

Tod, seelische Abgründe, Wahnsinn. Diese Themen sind im musikalischen Werk von Hermann Reutter (1900-1985) omnipräsent. Die erstmals aufgenommen Drei Lieder für Ophelia (1980) und die Vertonung Winterabend (1948) aus den Neun Liedern und Gesängen op. 59 nach Gedichten von Gottfried Keller verbinden überdies traumartige Zustände zwischen Realität, Unterbewusstsein und Wahn. Außerdem spielen sie mit unseren Urängsten: Kontrollverlust, Verlust einer geliebten Person und der gesellschaftlichen Isolation. Insbesondere die Texte von Gottfried Keller ästhetisieren gesellschaftliche Tabus: die Leichenschändung während eines Alkoholrausch („Winterabend“).

Die Musik von Hermann Reutter wird im heutigen Konzertbetrieb nur äußerst selten aufgeführt. Dabei war er seinerzeit durchaus erfolgreich und hat neben zwölf Opern auch Ballett-, Chor-, Klavier- und Kammermusik und über 200 Lieder komponiert. Geboren in Stuttgart wuchs Hermann Reutter als Sohn eines Fabrikarbeiters auf, lernte in seiner Kindheit Klavier und Cello. In München studierte er dann Komposition, Klavier und Orgel, obwohl er lieber Sänger geworden wär. Die Faszination für den Gesang und insbesondere für das Lied begleitete Reutter aber sein gesamtes Leben. Als Liedbegleiter musizierte er u.a. mit Karl Erb, Elisabeth Schwarzkopf, Dietrich Fischer-Dieskau oder Sigrid Onégin. Als Komponist war Reutter nach Einschätzung von Theodor W. Adorno in den 1920-er Jahren ein Vertreter des progressiven Flügels: „Reutter ist begabt. Es ist kontrapunktischer Drang in ihm und eine Art des amorphen musikalischen Strömens, dessen eruptive Dumpfheit an die ersten Arbeiten von Křenek erinnert, ohne daß jener imitiert wäre.“1 Reutters Werke wurden in den 1920-er Jahren mehrmals bei den Donaueschinger Musiktagen aufgeführt, er selbst war in diesem Zusammenhang auch in engem Kontakt mit Paul Hindemith.

1932 unterrichtete Reutter als Kompositionslehrer an der Württembergischen Hochschule für Musik Stuttgart, 1933 trat er in die NSDAP ein. Obwohl seine Werke auch unter den Nationalsozialisten gespielt wurden, bezeichnete Goebbels Reutters Musik in seinem Tagebuch als „scheußlich und unerträglich“2, auf der Düsseldorfer Ausstellung „Entartete Musik“ wurde Reutters Komposition Der neue Hiob, op. 37 angeprangert. Auch seine Oper Doktor Johannes Faust stand auf der nationalsozialistischen Liste der unerwünschten Werke. Abgesehen davon war Reutter von 1936-1945 Direktor am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt am Main. Nach dem Krieg unterrichtete Reutter als Professor für Komposition und Liedgestaltung in Stuttgart und wurde an dieser Hochschule später auch Direktor. Nach seiner Emeritierung leitete er außerdem eine Meisterklasse für Liedinterpretation an der Musikhochschule in München.

Der mit „wild, unheimlich“ überschriebene Winterabend ist ein skurriler Totentanz. Die Stimmung ist derb, wollüstig und unbedarft. Das Klavier klingt mal schroff und hämmernd, dann wieder spielerisch-sarkastisch. Die Gesangsstimme tanzt naiv und genüsslich über dem Klavier. Dabei ist die Szenerie ungeheuerlich: Der Totenwächter besäuft sich im Beisein der Leiche, legt sich zu ihr und begießt sie mit Wein.

Am Ende seines langen Lebens widmete er sich intensiv dem Hamlet-Stoff von William Shakespeare. 1980 wurde seine letzte Oper Hamlet an der Württembergischen Staatsoper Stuttgart unter der Leitung von Ferdinand Leitner uraufgeführt. Den Opernstoff verwendete er dann auch in weiteren Werken: in der Hamlet-Sinfonie (1982), im Epitaph für Ophelia (1979) und in den Drei Liedern für Ophelia (1980).

Die Figur Ophelia spielt in Reutters musikalischer Betrachtung also eine größere Rolle als Hamlet selbst. Tatsächlich sind die Texte von Ophelia geradezu prädestiniert für das musikalische Medium, beginnt sie doch auch im Shakespeare-Drama nach dem Mord an ihren Vater und das verletzende Abwenden ihres Geliebten Hamlet zu singen. Allgemein wird die Figur der Ophelia als Opfer des männlichen Handelns und Machtstrebens betrachtet, als schwache, passive und naive Tochter. Allerdings bedeutet ihre Liaison mit Hamlet für den von der Jungfräulichkeit besessenen Vater Polonius und den Bruder Laertes ein absolutes Tabu – noch dazu die Verbindung einer bürgerlichen Frau mit dem dänischen Prinzen. In ihrem Wahnsinn ergreift die einst so gehorsame und devote Ophelia nun immerhin eigenständig das Wort, macht sexuelle Anspielungen und findet letztlich ihren Tod im Wasser (unklar bleibt, ob es sich dabei um einen Unfall, oder um Selbstmord handelt). In jedem Fall ist ihr Verhalten in diesen aristokratischen Kreisen ungeheuerlich und unerwünscht - ihr Anderssein ein Tabu!

Das erste Lied Wie erkenn‘ ich dein Treulieb vor den andern nun? beginnt nachdenklich und ruhig im 6/8-Takt und erinnert beinahe an ein Wiegenlied. Ophelia singt „dolce dolente“ von ihren Verlusten. Die intime Stimmung bricht abrupt ab, die Musik ist von nun an geprägt durch ständige (fast „schizophrene“) Stimmungswechsel. Bewegte sich das tonale Zentrum zu Beginn noch im Fis-Raum, brechen die harmonischen Wurzeln nun zunehmend weg, chromatische Linien prägen nun das Lied, der Schluss bricht nahezu unvermittelt ab.

Das zweite Lied Auf morgen ist Sankt Valentinstag ist im ¾-Takt notiert und kommt lebendig und widerborstig daher. Die schlichte, fast altertümliche Melodie der Gesangsstimme erinnert an die Musik des Mittelalters – selbst der Text ist eine Anspielung an eine beliebte Thematik in der englischen Volksmusik (die „Night Visits“), bei denen der Liebhaber um die Frau buhlt.3 Die einfache, volkstümliche Melodie der Gesangsstimme wird allerdings harmonisch und klangästhetisch gebrochen durch die chromatischen Terzläufe im Klavier. In diesem Lied tritt neben dem Gesang auch der gesprochene Text auf, in dem Ophelia - als wache sie kurz aus ihrem Wahn auf – auf die reale Situation ihrer Familie anspielt. So benutzt Reutter, ebenso wie im Folgelied, das „Singen an sich zum Ausdruck des Wahnsinns“, während das gesprochene Wort der Vernunft zugeordnet ist und als „Vergleich und Kontrast“4 dient. Ophelia spielt in diesem Lied auf den ersten Sex der „jungen Maid“ an – und echauffiert sich über den Mann, der die „entehrte“ Frau nach dem One-Night-Stand sitzen lässt.

Das letzte der drei Lieder Sie trugen ihn auf der Bahre bloß bietet den wohl intimsten Einblick in das Seelenleben von Ophelia. Unruhig und nervös beginnt das Klavier, der Gesang bremst schwermütig ab. Fortwährend wechselt die Stimmung, geprägt durch eine dichte Chromatik, ähnlich wie im ersten Lied. Ophelia macht Anspielungen auf ihren Selbstmord und die Endlichkeit des Lebens. Das Lied endet mit einem spannungsreichen Doppel-Akkord aus C-Dur und Des-Dur.

Werktext zu Hermann Reutter von Elisabeth Hahn

  1. Theodor W. Adorno: Kompositionskritik (1927) zu Reutters Klavierwerken Fantasia apocaliptica (Erscheinungen zweier Choräle) op. 7 und Variationen über das Bachsche Chorallied Komm süßer Tod. Komm sel’ge Ruh op. 15, in: ders., Gesammelte Schriften 19, hg. Rolf Tiedemann und Klaus Schultz, Frankfurt am Main 1984, S. 298.    
  2. Joseph Goebbels: Tagebuch III. Eintrag vom 20. Januar 1938, S. 408.
  3. Vgl. Arabella Pare: Hermann Reutters Ophelia-Lieder, in: Ritter, Tod und Teufel. Hermann Reutter und das Lied, hg.Matthias Wiegandt, Würzburg 2021, S. 188ff.
  4. Ebd., S. 182

         

MICHAEL MARIA ZIFFELS | taumel der trennung für Sopran und Klavier (2023)

Das Gedicht »Taumel der Trennung« von Ulrike Draesner besteht aus 21 Zeilen. In zwanzig Zeilen ist jeweils ein Wort fett gedruckt. Die so hervorgehobenen Wörter ergeben eine Botschaft: »Ich drehe noch durch« und einige Ableitungen davon. Das Gedicht ist ein Zwiegespräch zweier Menschen vor dem morgendlichen Badezimmerspiegel und endet einfach mit der Zeile: »vorbei«.

Die Komposition »Taumel der Trennung« beleuchtet auf musikalische und psychologische Weise die Aspekte einer Trennung zweier Lebenspartner:innen. Es ist ein Wechselspiel von Annäherung und Gemeinsamkeiten sowie Entfremdung und Gegensätzen. Wenn die Sopranistin singt: »Durch zu vieler Spiegel: Ich dich jetzt nicht mehr versteh«, kippt die Stimmung ins Groteske.

Die Komposition habe ich als Mini-Oper für das TABUMATOR-Programm von Sophia Körber und Yun Qi Wong geschrieben. Sie wurde im Rahmen der ACHTELTON.de Konzertreihe uraufgeführt.

Werktext von Michael Maria Ziffels

Snezana Nesic | MELTDOWN II

Dieses Werk existiert nur deswegen, weil ich meine Begeisterung für die dadaistischen Texte ausgewählter Autor*innen nicht anders zum Ausdruck bringen konnte. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass es sich vorwiegend um Frauen, also um Dadaistinnen handelt, die das Leben in seiner Widersprüchlichkeit geistreich, scharfsinnig und oft mit einer gesunden Portion Humor gut beschreiben konnten. Es ist vorwiegend ihnen (vor allem der Emmy Hennings und der erst vor kurzem wiederentdeckten Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven) zu verdanken, dass mein Stück ein Kabarett und nicht irgendein zeitgenössischer Krimskrams geworden ist. Fazit? Lest lieber gleich die genialen Texte dieser Autorinnen statt diese fantasielose „Programmbeschreibung“, denn vielleicht schafft ihr sogar etwas noch Besseres dazu zu komponieren/kreieren als ich (vor allem auch dadurch, dass ihr dazu bestimmt eine inspirative Portion Weißwein genießen könntet, worauf ich leider verzichten musste, da ich den Wein nicht vertrage … Ich bitte euch deswegen darum, die Schwäche einiger musikalischen Momente diesem unglücklichen Umstand oder meiner ungeschickten Textadaptionen zuzuschreiben und nicht den Dadaistinnen selbst, deren poetische Perfektion nicht in Frage gestellt werden soll!).

Ich darf jedoch nicht vergessen, auch die talentierten Nachfolgerinnen dieser reizenden Dada-Frauen zu erwähnen: Sophia Körber und Yun Qi Wong. Sie haben mich nicht nur durch ihren Innovationsmut dazu geführt, mich selbst als Tabumatorin zu entdecken, sondern haben mich insbesondere durch ihre lebendigen Charaktere und ihre unübertroffene Musikalität für dieses Werk inspiriert.

Werktext von SNEŽANA NEŠIĆ
         

Americ Goh | 7 Songs about Men (7 Lieder über die Menschheit)

(D. H. Lawrence)

Über die Menschheit reden, über uns selber reden. Über diese lächerliche und doch so glorreiche Spezies nachsinnen, die den Test der Zeit bestanden und sich zu solch großen Höhen entwickelt hat: Nicht immer ein schönes Bild. Wir fragen nach der Menschlichkeit und nach unserer Grundexistenz als Menschen.

7 Lieder über die Menschheit ist der erste von drei Liedzyklen für Solostimme und Klavier. Das Triptychon basiert auf folgender Thematik in der Reihenfolge: die Menschheit, deren Leben, sowie Resignation. Die Gedichte von D. H. Lawrence, welche mich immer wieder faszinieren, wurden von mir umgeordnet, um eine erzählerische und dramatische Interpretation zu erzeugen.

Der Zyklus über die Menschheit fängt in I. Menschen und Maschinen mit der Beziehung zwischen Mensch und Maschine an. Geprägt von einem moralisierenden Unterton wird hier die gesamte Idee von „Erfindung“ und „Schöpfung“ im Rahmen des Liedes infrage gestellt. Auch wenn das Gedicht ein Nachsinnen über die industrielle Revolution war, so ist es heute immer noch aktuell. Danach folgt II. Was haben sie mit euch gemacht? Dort wird das „uns aufgezwungene Schicksal” hinterfragt und die Thematik der Maschine vom ersten Lied weiterverfolgt: Üblicherweise arbeitet man um zu leben. Die „schizophrene“ Gesangslinie überlagert sich mit den pulsierenden Figuren der Klavierlinie, die das Arbeiterleben darstellt. Die Klanglandschaft der Maschinerie wird mit der Gesangslinie konfrontiert (die die Sängerin sich buchstäblich erarbeiten muss), obwohl der mittlere „entspannte“ Teil die Menschlichkeit einigermaßen „romantisch“ darstellt, und zwar in einem stereotypischen Rezitativ. In dem dritten Lied III. Das Volk geht es mit denselben Themen von Maschine und Arbeit weiter, doch hier wird der Mensch als Fisch am Angelhaken gesehen. (In weiteren Bildern des Triptychons wird man mit anderen Lebenwesen assoziiert). Dieses Lied hat eine weit ausgebaute Form, ist durchkomponiert und enthält szenische Rezitativ-Elemente. Es ist auf eine bestimmte Art satirisch und verspielt, was der Sängerin ermöglicht, die Musik zu dramatisieren. Das Lied endet mit einer Anlehnung an das erste Lied.

Ein starkes Klage-Gefühl durchdringt den Zyklus bisher, seinen Höhepunkt erreicht es in einer Art „Unterrichtsstunde“ in IV. Eidechse. Eine Beobachtung der Eidechse dient zur Erinnerung, dass wir genauso einfach wie sie sein könnten. Das Klavier malt eine pointillistische und doch stagnierende „Wand“: eine einfache Struktur, über die die Stimme ganz bescheiden ihre musikalische Erzählung vorträgt. Von lebhaft zu leblos wird der Mensch in V. Der Unterschied mit Blättern verglichen: Nachsinnen über herabfallende Blätter, sowie Blätter, die durch die Brise des Atems „lebendig“ werden. Die Klavierbegleitung besteht aus wiederholten Akkord-Figuren, in denen die betonten Töne der minimalistischen Materialen stets vertauscht werden, während die Stimme sich in ihrer bisher lyrischsten Form befindet: All dies eine Spiegelung einer eher „menschlichen“ Perspektive. VI. Feiglinge bewegt sich drastisch zurück zum Vergleich zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen. Die musikalische Struktur wurde hier auf einen fast primitiven und zeremoniellen Rahmen stark reduziert, was ein Gefühl der Bedrohung vermittelt. Die Idee von „Schöpfung“ aus dem ersten Lied ist wieder da. Das Lied endet mit einem plötzlichen hysterischen Ausbruch, der die menschliche Feigheit einem einfachen Leben gegenüber tadelt: das mögliche Aussterben von Menschen. Der Zyklus endet mit

VII. Menschen. Im Gegensatz zum dritten Lied III. Das Volk ist hier ein Plädoyer: ein Credo über die Akzeptanz der „Natur“ der Menschen, gleichzeitig spielt es drauf an, dass das „Alleinsein“ eine mögliche Lösung wäre, um eine Realität zu vermeiden, mit der man nicht zurechtkommen kann. Das Lied ist herausfordernd und virtuos, komponiert mit blumigen Verzierungen, die Auffälligkeiten und Egoismen verkörpern. Bausteine aus den ersten drei Liedern gipfeln in diesem letzten Lied.

Die Texte von D.H. Lawrence sprechen uns bis heute an als eine Spiegelung unserer Gesellschaft. Der Zyklus wurde 2017 geschrieben und war für eine weibliche, hohe Koloraturstimme gedacht. Es war eine persönliche Besinnung, und ich hätte mir nie vorgestellt, dass er jemals aufgeführt wird (oder sogar aufgenommen). Ich bin dankbar dafür, dass Sophia und Yun Qi sich dieser Herausforderung angenommen haben, die Lieder zu interpretieren, und möchte an dieser Stelle Ihnen meinen tiefsten Dank ausdrücken für ihre wunderbare Musikalität, Professionalität, und Mut (und Kühnheit!).

Was haltet ihr nun von der Menschheit nach dem Anhören?

Werktext von Americ Goh, Übersetzung Yun Qi Wong

Eliazer Kramer | Clitoris Magnificus

Clitoris Magnificus wurde ursprünglich als Abspann-Musik für Lori Malépart-Traversys Kurzfilm Le clitoris (2016) komponiert. Im Film wurde es für ein Trio für Frauenstimmen und Solo-Cello geschrieben. Das animierte Werk ist eine Bildungsdokumentation über die Klitoris und erzählt von einigen positiven und diskriminierenden Standpunkten der Klitoris im Laufe der Geschichte. Es erklärt beispielsweise, dass die katholische Kirche Frauen empfahl, Orgasmen zu haben, um sich von sexuellen Spannungen zu befreien, während Ärzte im 19. Jahrhundert behaupteten, die Klitoris sei im Prinzip verkümmert. Als Erwiderung feiert Clitoris Magnificus die (frühere) Einstellung der Katholischen Kirche über Sexualität mit seinem lateinischen Text und Barock-Stil. Wie es sich bei einer richtigen Hymne gehört, wird die Klitoris in Clitoris Magnificus gelobpreist (Clitoris, in excelsis Deo), bejubelt (Ave Clitoris!) und mit der erforderlichen Anbetung (Adoramus te) und Heiligkeit (Cunnilingus spiritus) gefeiert. Ich hatte mich gefreut, als Sophia Körber mich 2019 kontaktierte und fragte, ob sie mit Yun Qi Wong Clitoris Magnificus bei einem Konzert in Hannover aufführen dürfte. Darüber hinaus war ich sehr glücklich, als sie später darum bat, dass ich eine Bearbeitung für Klavier und Sopran für ihre Duo-CD mache. Es gibt außer einer kurzen Einführung nicht viele Änderungen von der ursprünglichen Version des Animationsfilms: Es bleibt ein bescheidenes Stück, dessen Erfolg letztlich daran gemessen wird, wie seine Fähigkeit ist, den Zuhörern ein Lächeln oder Fauchen auf die Lippen zu zaubern.

Werktext von Eliazer Kramer, Übersetzung Yun Qi Wong

BIOGRAPHIEN

Sophia Körber

© Rüdiger Scheschtag
Sophia Körber ist als vielseitige Opern-, Konzert- und Oratoriensängerin international tätig und hat sich als Solistin in den Bereichen Neues Musiktheater und Barockmusik etabliert. 2020 lobten die Vorarlberger Nachrichten ihre »Zaubertöne« als Servilia in Mozarts »La clemenza di Tito« am Landestheater Bregenz. In der Spielzeit 2022/2023 wird sie erneut als Gerda in »Die Schneekönigin« an der Deutschen Oper Berlin gastieren. Sie ist Preisträgerin des Bundeswettbewerbs Gesang Berlin und Gewinnerin des Internationalen Wettbewerbs Giovani Musicisti Treviso in der Kategorie Zeitgenössische Musik. Durch Stipendien der Walter und Charlotte Hamel Stiftung, Live Music Now Hannover und der Studienstiftung des deutschen Volkes wurde Sophia Körber maßgeblich gefördert. 2019 war sie Finalistin beim Richard-Strauss-Gesangswettbewerb München, 2021 Finalistin im Wettbewerb #LIEDINNOVATION des Rhonefestivals, 2022 mit dem COLLIDE Quartett für den Klassiksommer Musikpreis Hamm nominiert.
https://www.sophia-koerber.de

Yun Qi Wong

© Rüdiger Schestag
Yun Qi Wong ist als freischaffende Liedpianistin, Kammermusikerin und Konzertpianistin aktiv und arbeitet eng mit Sprecher:innen, Dichter:innen, bildenden Künstler:innen sowie Komponist:innen zusammen. Sie trat u.a. beim Schleswig-Holstein Musik Festival, Siegfried Matthus Symposium, bei den Max-Reger-Tagen, in der Philharmonie Essen, Staatsoper Hannover, im Tempe Center of the Arts in Arizona (USA) und Esplanade Recital Studio/Concert Hall (Singapur) auf. Darüber hinaus ist Yun Qi regelmäßig als Korrepetitorin bei Wettbewerben und Meisterkursen wie z.B. dem Deutschen Musikwettbewerb, Jugend Musiziert und Forum Artium aktiv. 2010-2020 war sie als Lehrbeauftragte an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover tätig. Yun Qi wurde von der Steinway Gallery Singapore gefördert und war Stipendiatin des Nationalen Musikrates in Singapur, der Justus-Hermann-Wetzel Stiftung, der Bayreuth Stiftung des Richard-Wagner-Verbandes Hannover e.V. sowie des NEUSTART KULTUR Zukunftprogramms. Den ersten Preis für Kammermusik gewann Yun Qi 2009 beim 11. Deutschen Akkordeon Musikpreis.
http://www.yunqiwong.com