Zwei vollwertige Orgeln – und noch eine dritte, als kleine Truhenorgel: Diese ganz besondere Ausstattung ist in der über 800-jährigen Klosterkirche St. Marienberg Helmstedt vorzufinden. Welcher Ort also wäre besser geeignet zur Eröffnung des Musik 21 Festivals 2024? Drei Kompositionen von Yixie Shen (*1993), Sebastian Zaczek (*2002) und Eloain Lovis Hübner (*1993) sind speziell für diesen Anlass entstanden und werden vom Ensemble L’ART POUR L’ART, dem Helmstedter Propsteikantor Mathias Michaely sowie den Spezialist:innen für Neue Orgelmusik Kerstin Petersen und Dominik Susteck uraufgeführt. Hinzu kommen Werke von Ana Szilágyi (*1971), Hans-Joachim Hespos (1938-2022), Gerald Eckert und Caspar Johannes Walter (*1964)
Ensemble L'ART POUR L'ART
Astrid Schmeling (Flöten)
Nele B. Nelle (Klarinette)
Uschik Choi (Cello)
Michael Schröder (E-Gitarre)
Hartmut Leistritz (E-Piano)
Anja Gaettens (Violine)
Stefan Troschka (Klangregie)
Kerstin Petersen, Dominik Susteck (Orgeln)
Mathias Michaely (Truhenorgel)
Ana Szilágy - Unity and Diversity für zwei Orgeln und zwei Registrant*innen (2020 UA)
»Unity and Diversity« thematisiert ein altes, schon in derAntike bestehendes Thema: Einheit und Mehrheit. Die Einheit, der Grund, dieBasis oder die Anlage besteht aus drei Grundtönen - Des, C und D - und ihren Varianten, Änderungen, Transformationen, die sich mehr oder weniger von der Basis entfernen, aber trotzdem Eigenschaften derGrundlage besitzen, bestehen aus Verfahren, die in der Musik üblich sind. JederAbschnitt des Werks ist entsprechend benannt:
1. Repetitions (Wiederholungen): Die Obertöne des Grundtons Des sind verstreut, danach hört man eine Art Choral in der zweiten Orgel. Das Ganze wird wiederholt.
2. Variations (Variationen): Die erste Orgel beginnt die Obertöne des Grundtons Des zu spielen. Diese werden von der zweiten Orgel übernommen. So ergibt sich zwischen den zwei Orgeln eine unidirektionelle und eine zyklische Bewegung. Es ist ein Spiel mit dem Raum.
3. Processes (Prozesse): Es gibt hier einen Prozess in Hinblick auf Klangfarbe und Struktur. Die Klangfarbe wird durch das langsame Einschalten der Register oder durch abwechselndes Ein- und Ausschalten eines Registers sowie durch das Glissando verändert. Was die Struktur anbelangt, wird der Choral destrukturiert, zerlegt, man hört die Töne der Akkorde nacheinander. Die Töne des Chorals werden imPedal permutiert (nur mit 4 Fuß, wie bei einem Cantus Firmus), während die Bassfunktion von der linken Hand übernommen wird.
4. Contrasts (Kontraste): Die Kontraste sind dynamisch – eineOrgel spielt leise, als Echo, Töne der anderen Orgel - und mikrotonal; die zweite Orgel, die mitteltönig gestimmt ist, übernimmt den Choral der erstenOrgel und führt ihn anders aus, sodass man den Eindruck hat, dass er falsch klingt. Bis zum Schluss alterniert der Choral mit improvisatorischen Momenten; als Vorrat hat man die Obertöne von D, davon sollte man 1 bis 3 Töne auswählen und spielen. Die Zeitdauer ist in Sekunden angegeben.
5. Overlappings (Überlappungen): Der Choral wird mit sich selbstüberlappt und in den zwei Orgeln gehört. In der nächsten Improvisation werdendie Grundtöne D, Des und C und ihre Obertöne verwendet. Man sollte auf diesenTönen Akkorde improvisieren.
Zum Schluss sollte man auf jedem Akkord den Schweller betätigen, um Decrescendi und Crescendi zu erzeugen. Da es viel zumRegistrieren gibt, habe ich jedem der zwei Registrant*innen der großen Orgele in System mit den Hinweisen angegeben. Die Registrant"innen werden dadurch nahezu gleich wichtig wie die/der Organist*in. Das Schreiben für zwei voneinander entfernte Orgeln hat mich angeregt, an Verfahren aus der elektroakustischen Musik zu denken, was den Klangraum betrifft: uni-, bidirektionale, zyklisch/zentrische Bewegung, Verstreutheit oder Lücken in der Obertonreihe. (Ana Szilágy)
Yixie Shen - iceberg, floating, you.
Eisberg – ein massives, scheinbar unbewegliches Objekt – ist ein Bild, das ich stark mit der Orgel verbinde, insbesondere wenn zwei im Spiel sind. Obwohl er still erscheint, ist immer in einem Zustand langsamer, natürlicher Bewegung – eine große, unaufhaltsame Kraft des Wandels, ein allmählicher, unausweichlicher Übergang. Doch Stille und langsame Bewegung sind nur ein Teil seines Wesens; in ihm liegt die Möglichkeit des plötzlichen Zusammenbruchs – zart und fragil, aber auch kraftvoll und furchterregend.
Das Ensemble hingegen begegnet diesem Eisberg. Es bedeutet für mich einen Zustand des Schwebens und verkörpert zugleich den Prozess des Übergangs. Es bewegt sich zwischen Zuständen, schwebt zwischen dem Vertrauten und dem Unbekannten und erzeugt das Gefühl, in einem Fluss zu sein, das für Übergänge zentral ist. Es begleitet durch Klang und Zeit. In diesem Zusammenspiel von zwei Orgeln und Ensemble stelle ich mir vor, dass ich – mit dir, als Zuhörer und Beobachter – ein Teil dieser Reise sind, die uns ganz nah mit dem Prozess des Wandels verbindet.
Caspar Johannes Walter - Labialklänge 2 (2024)
UA der Fassung für Flöte, Klarinette, Gitarre, Cello, Thai-Gong in G und virtuelles Arciorgano
Seit einem Jahrzehnt fasziniert mich das Arciorgano, ein von Nicola Vicentino im 16. Jahrhundert entworfenes und eingesetztes Orgelinstrument für die Aufführung enharmonischer Musik mit kleinsten Tonschritten. 36 Tasten pro Oktave in verschiedenen Stimmungen, ein einziges Register, ein schlank geschnittenes obertonreiches Holzprinzipal - und natürlich eine manuelle Windversorgung. In der Musik Akademie Basel haben ein Team um Johannes Keller mit dem Orgelbauer Bernhard Fleig eine Rekonstruktion des Instruments vorgenommen und seit 2016 arbeiten wir damit in den Bereichen historischer Aufführungspraxis und Neuer Musik.
Für mich sind die Pfeifen wie einzelne Instrumente, ihre Klänge sind lebendig, sogar modulierbar durch die Veränderung des Winddrucks und durch Abdeckung des Labiums oder der oberen Pfeifenöffnung. Das ermöglicht nicht nur Crescendi und Decrescendi sondern auch Glissandi, Luftklänge und Multiphonics.
In einem besonderen Aufnahmeprojekt des Experimentalstudio Freiburg haben wir 2023 nicht nur die gut gestimmten Töne, sondern besonders solche außergewöhnlichen oft geräuschhaften Klänge aufgenommen, möglichst in vielen Schattierungen. Hier ist oft jeder Klang jeder Pfeife individuell anders. Wir haben alles in verschiedenen Konfigurationen aufgenommen, normal, sozusagen von innen, und realistisch körperlich. Diese möglichst körperliche, sehr direkte Version benutze ich nun für die Stücke meiner Serie „Labiumklänge“. Es sind Kammermusikstücke, bei denen die Orgelpfeifenklänge zugespielt werden.
Die Klänge der Pfeifen betrachte ich als Fremde, die ich gerne als Gäste begrüße. Obwohl bzw. gerade weil ich sie nicht verstehe, möchte ich sie kennenlernen. Ich höre ihnen zu und sammle viele kleine Informationen über sie. Diese Informationen helfen mir, um die Orgelpfeifenklänge dann mit den mir besser bekannten Instrumental- oder Vokalklängen in Verbindung zu bringen.
In Labiumklänge 2 ist es ein kleines Ensemble von fünf Instrumenten, das behutsam seine Klänge zu den Geräuschen und Klängen des virtuellen Arciorgano mischt. Das Stück wurde für und im Auftrag des Ensemble L’ART POUR L‘ART geschrieben.
Sebastian Zaczek - »nicht spurlos« (2024)
for two organs and ensemble
Gute 20 Meter trennen die beiden Orgeln in der Klosterkirche St. Marienberg in Helmstedt voneinander. Ebenso fest dastehend wie die Orgeln selbst sind auch die Klänge, die sie in den Raum setzen - einzelne Töne, Akkorde, kurze Linien... Und auch zwischen diesen Klängen gibt es Distanzen, welche das Ensemble zwischen den beiden Orgeln zunächst mehr und mehr aufbaut und verdeutlicht.
Was passiert nun aber, wenn alles zusammengezogen wird, wenn zunächst als weit voneinander entfernt etablierte Fixpunkte plötzlich lückenlos aneinander gesetzt werden? Wenn von den weiten Entfernungen und langen Wegen zwischen ihnen nur noch dunkle Erinnerungen bleiben? Und überhaupt, sind diese vermeintlichen Fixpunkte nicht möglicherweise selbst in mancher Hinsicht nur einige beliebig gewählte Punkte in irgendeinem kontinuierlichen Raum?
Gerald Eckert - »instead of (empty rooms II)« (2019)
für Ensemble und Elektronik
„instead of (empty rooms II)“ geht zurück auf eine Konzeption aus dem Jahr 2009, die zu „empty rooms“ führte. Im Gegensatz zum älteren Werk, in dem verschiedenartige Resonanzphänomene, beispielsweise energetische Weiterführungen von Impulsen, abgehandelt wurden, konzentriert sich „instead of (empty rooms II)“ auf die Verästelung und Vereinzelung von eigentlich größer gedachten Feldern. Die Vereinzelung führt meines Erachtens dazu, im Gegenwärtigen verortet zu werden und gleichzeitig die Möglichkeit zu erhalten, den Spuren zu folgen...
Auch „instead of (empty rooms II)“ bezieht sich auf eine Textzeile aus dem V. Teil des Gedichtes "The waste Land" von T. S. Eliot:
Hans Joachim Hespos (1938-2022) »SNs« (1975)
Version für zwei Orgeln
"Die Orgel war für ein Hespos 'ein Haufen Knochenflöten'. Zu hören ist das in seinem Stück „Sns“. Hier kommt die Orgel als Klapperinstrument zum Einsatz. Das Klappern holt Hespos aus den Pedalen, den Registern und sogar der Holzbank des Organisten."
(aus: Leonie Reineke - Töne aus dem Material der Instrumente)
Eloain Lovis Hübner - »Masse und Bewegung 7«
für Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello, E-Gitarre, E-Piano/Synthesizer, Truhenorgel und zwei Orgeln
Masse und Bewegung ist eine 2018 begonnene Reihe von mittlerweile acht Kompositionen (MuB0–7) für verschiedene Ensemble- und Orchesterbesetzungen, die sich mit Verdichtungs-, Akkumulations- und Zerfallsprozessen auseinandersetzen. Der Titel ist übernommen von einem Buch des Philosophen Christian Unverzagt, der mit der Unschärfe des Begriffspaars zwischen Physik und Soziologie spielt. Mich interessiert, diese Mehrdeutigkeit auf die Bestimmung und Gestaltung weiterer „abstrakter“ Vorgänge in der Musik auszuweiten, ohne dabei aus dem Blick zu verlieren, welche konkreten Vorgänge in der „realen“, politischen und sozialen Welt mit ihnen korrelieren oder sich möglicherweise in ihnen abgebildet finden.
Während die ersten vier Stücke jeweils einen Klangkörper als zwar heterogenen, vielstimmigen, aber in sich geschlossenen „Organismus“ in den Mittelpunkt rücken, sind es in den darauffolgenden Arbeiten unterschiedliche Gruppen, die mitunter weitgehend unabhängig voneinander agieren und durch deren Reibungen an- bzw. Verschiebungen gegeneinander Schichtungstexturen entstehen und wieder zerbrechen. Dabei dienen klassische musikalische Formen als Schablone: In MuB4 sind zwei Solist:innen an Grillrost, Glasscheibe und Schnapsflasche im Sinne eines „Doppelkonzerts“ einem begleitenden Ensemble mit klingenden Alltagsgegenständen/-materialien gegenübergestellt; in MuB5 spielen vier Orchestergruppen miteinander wie in einem Quartett aus vier „Meta-Instrumenten“; und MuB6 ist eine Art „Concerto grosso“ für eine Sologruppe aus Orgel, Kontrabass und Schlagzeug/Klangobjekten sowie zwei identische Ensemblegruppen, die miteinander einen strengen Kanon spielen.
MuB7 schließlich sucht nach scharfen Kontrasten, weichen Übergängen, Abgrenzungen und Schnittstellen: Flöte, Klarinette, Violine, Cello und E-Gitarre spielen hier (wie in einer Installation oder Ausstellung) parallel und weitgehend autark ihre Soli, während ein Trio aus drei Orgeln den Raum weit auf- und umspannt und ein Synthesizer, als Kitt zwischen beidem – dem Individuellem und dem Integralen –, zu immer intensiveren Verschmelzungs- und Kulminationsbewegungen drängt. Um diese Räumlichkeit zu erfahren, Details an verschiedenen Hörpositionen zu erleben und Ihre eigene „Abmischung“ zu gestalten, sind Sie eingeladen, sich während der Aufführung durch den Raum zu bewegen.