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Das Neue Ensemble

Füsun Köksal, Aaron Cassidy, Nicolaus A. Huber u.a.

© Nadja Mahjoub

Kipppunkte: In diesem abwechslungsreichen Konzert des in Hannover weithin bekannten und geschätzten Neuen Ensembles geht es um solche, die individuell überschritten und empfunden werden; die zahlreichen bewussten und unbewussten Entscheidungen, die unser Leben in die ein oder andere Richtung lenken. Dass Musik eine spezifische Art hat, auf sie hinzuweisen und sie zum Ausdruck zu bringen – Sprache und Gedächtnis spielen dabei eine besondere Rolle –, zeigen Werke der letzten fünfzehn Jahre von Füsun Köksal, Aaron Cassidy, Nicolaus A. Huber, Katharina Roth und dem Siemens-Preisträger Mikel Urquiza.

Programm

Füsun Köksal: Sätze-Wörter-Zeichen (2022, 9’)
für Flöte, Klarinette, Klavier, Violine, Violoncello
Aaron Cassidy: l.d._ p.c. (t.c.h.) (2010, 4’)
für Klavier solo
N. A. Huber: Blanco y Verde (2018, 13’)
für Flöte und Klarinette
Katharina Roth: Snake Charmer (2013, 6’)
für Bassflöte, Bassklarinette, Schlagzeug, Violine, Violoncello
Mikel Urquiza: Ars memoria (2019, 10’)
für Flöte, Klarinette, Klavier, Violine, Violoncello

Besetzung

Josje ter Haar - Violine

Jessica Kuhn - Violincello

Daniel Agi - Flöte

Udo Grimm - Klarinette

Christof Hahn - Klavier

Stephan Meier - Leitung

Werkeinführungen

Füsun Köksal: Sätze-Wörter-Zeichen (2022)

Sätze-Wörter-Zeichen ist ein Auftragswerk des Todenmelisma Musikfestivals und des E-MEX Ensembles und wird 2022 vom E-MEX Ensemble uraufgeführt. Es ist eine musikalische Erzählung, die sich Schritt für Schritt entfaltet - durch musikalische Bausteine, Wörter, Phrasen, Absätze. Während die Aneinanderreihung von Wörtern, die wie in der gesprochenen Sprache zu Phrasen verschmelzen, auf einen sich vorwärts bewegenden zeitlichen Zustand hinweist, werden die abgeschnittenen Wörter zu Zeichen, die die Erzählung unterbrechen und die sich vorwärts bewegende Zeit anhalten. Im Gegensatz zu meinen früheren Arbeiten bezieht sich diese Arbeit nicht direkt auf ein konkretes Phänomen, sondern auf Musik. Andererseits versucht es, eine Geschichte zu erzählen, die es nicht gibt, manchmal lyrisch, manchmal intensiv, manchmal zum Anfang zurückkehrend und manchmal ins Leere verschwindend.

N. A. Huber: Blanco y Verde (2018)

Blanco y Verde ist für Große Flöte und Klarinette in B geschrieben, ohne jeglichen Instrumentenwechsel. Der Titel selbst stammt von Carmen Herrera, die mehrere großformatige Bilder dazu Ende der 50er Jahre gemalt hat. Es sind durchweg architektonisch abstrakte Malweisen mit zwei Farben – in diesem Fall Weiß und Grün. Beide Farben faszinieren mich schon sehr lange! Weiß war die Farbe von Mallarmé, in die er Wörter setzte, wie später Satie seine Notenpunkte. Und Grün – „le rayon vert“ – ist die Farbe einer rätselhaften Installation von Marcel Duchamp zu einer Surrealismusausstellung in Paris 1947.Das Verrückte an der Farbe Grün ist deren Beziehungsmöglichkeit zur Musik, denn wir sehen Grün nur, wenn 5 Photonen pro Sekunde in unser Auge wandern. Das ist eine einfache Quintole auf 1 Viertel = 60.Deswegen spielt in meinem Stück die „5“ eine besondere Rolle – nicht nur pro Sekunde! Und noch etwas Seltsames gibt es in diesem Stück – die Proportion 1:2 oder 1:4 bzw. 1:8. Es ist die Oktave, die Töne so verdoppelt, dass diese sowohl verschmelzen können als auch Selbständigkeit oder gar Unabhängigkeit zeigen, ja dann daraus sogar mikrotonal die Oktave dehnen und krümmen können. Als „Ich-Intervall par excellence“, „der inneren Aufrechtbewegung“ verifiziert Hermann Pfrogner dieses rätselhafte Verhältnis, bevor die Saitenteilungen zu Quinte und Quarte fortschreiten.Mein Duo birgt also eine Zweiheit von besonderer Art. Jede Zweiheit kann zu einer 1, einer neuen Einheit werden, dem eine neue 2 zufällt. Eigentlich eine freie, ja unendliche Wachstumsstruktur. Darin blicken manche Töne zurück, wie quantenverschränkt, und unser Wahrnehmungsorgan verwundert sich über Abstände und Strecken, die gleichzeitig instantan, ohne Abstände und Strecken sind und noch die Wahrscheinlichkeitswelle des Ortes verkraften muss. Quantenfarben – blanco y verde? (Nicolaus A. Huber, Februar 2018)

Mikel Urquiza: Ars memoria (2019)

Die Ars memoriae oder Gedächtniskunst ist die antike Disziplin, die versuchte, die Funktionsweise des Gedächtnisses zu verstehen und Techniken zu entwickeln, um es bestmöglich zu nutzen. Frances Yates hat in ihrem Essay The art of memory (1966) die Entwicklung dieser Disziplin und ihre zahlreichen Auswirkungen über die Jahrhunderte hinweg beschrieben.
Eine der berühmtesten Techniken ist die, sich das Gedächtnis als ein Gebäude vorzustellen, in dessen verschiedenen Räumen die Erinnerungen nach ihrer Art gruppiert aufbewahrt werden.
Jeder Gegenstand in einem Raum kann durch logische Assoziationen dabei helfen, sich die Details dessen zu merken, was man sich merken möchte.Interessiert an dieser Beziehung zwischen Erinnerung und Architektur, baute ich die Struktur dieses Musikstücks nach dem Modell einer (derzeit noch unvollständigen) römischen Domus auf, die Folgendes umfasst: einen Eingangsflur (fauces I ), ein Becken (impluvium), zwei Schlafräume (cubicula) und einen Ausgangsflur (fauces II).
In den Fluren habe ich meine Erinnerungen an die Korridore, das verblasste Licht an den Wänden und einen Luftzug abgelegt. In dem Becken, das unter freiem Himmel liegt, eine Erinnerung an den Regen. In den Schlafzimmern eine Erinnerung an die Liebe (die die stille Liebe der gequälten Liebe gegenüberstellt) und eine Erinnerung an den Schlaf.
Es sind erfundene Erinnerungen, aber das ist nichts Besonderes, denn jedes Mal, wenn wir eine Erinnerung heraufbeschwören, verzerren wir sie - und entfernen sie vom Realen. Vielleicht sollte man sich ein Gebäude vorstellen, das sich verändert, dessen Zimmer größer werden oder die Farbe wechseln; ein Gebäude, das wie die römische Domus das Dach und die Wände verliert und von Efeu und Staub bedeckt ist; ein Gebäude, das zu seiner eigenen Erinnerung wird.

BIOGRAPHIEN

Das Neue Ensemble

© Nadja Mahjoub
Das Neue Ensemble kann ganz richtig als Idealstätte sowohl der kammermusikalischen Entfaltung, als auch der geteilten künstlerischen Ideale und des gemeinsamen Diskurses darüber bezeichnet werden, in der Erfahrungshorizonte zusammenfließen zu einem genuin eigenen künstlerischen Profil, das seit 1993 gewachsen ist, sich fortentwickelt und durchgesetzt hat, ob in Peking, Nischni-Novgorod, Paris, Köln oder München, oder in Aufnahmen und digitalen Produktionen, zuletzt auf der jüngsten CD-Veröffentlichung mit Unterstützung von Musiques francais d’aujourdhui, oder von »Sternklang« 2020. Die einzelnen Musiker verkörpern diese künst- lerischen Ideale und diese Internationalität auch individuell; und zwar nicht nur hier, sondern auch in ihren anderen professionellen Zusammenhängen; ganz natürlich – zwangs- läufige Folge der gegebenen Szene und der Lebensbedingungen im Sektor: Daniel Agi in seinem Köln-Berliner Ensemble Handwerk, Udo Grimm im Ensemble Modern und Schola Heidelberg, Josje ter Haar im Ives Ensemble und beim RadioKamerorkest Nederland, Jessica Kuhn in ihrer eigenen Reihe in München und als Gast bei Musikfabrik NRW, Christof Hahn in Hamburg als Solist und u.a. mit dem NDR Chor sowie Stephan Meier als Artistic Director der Birmingham Contemporary Music Group.
http://www.dasneueensemble.de