Tobias Eduard Schick komponiert eine feinsinnige, komplexe, eigenwillige und energetische Musik, sucht klangliche Reibungen, Kontraste und seltene Farbnuancen. Seine Klangwelten scheinen von Wirklichkeitserfahrungen durchdrungen zu sein wie Wasser, das durch verschiedene Erdschichten durchfließt, bevor es in einer Quelle wieder an die Oberfläche tritt. 2022 war der 1985 geborene Komponist Stipendiat auf dem Künstlerhof Schreyahn, wo die Werke Drei Farben: Grün und Doppelter Blick entstanden: Das Leipziger Ensemble Contemporary Insights, mit dem Schick eine regelmäßige Zusammenarbeit verbindet, bringt sie mit weiteren Arbeiten der letzten zehn Jahre zur Aufführung.
Ensemble Contemporary Insights
Georg Wettin, Klarinette
Susanne Stock, Akkordeon
Michiko Saiki, Klavier
Mishi Stern, Violine
Elio Manuel Herrera, Violoncello
Unerwartete Umbrüche
Flüchtige Klangfiguren huschen vorüber, zart getupfte, von plötzlichen Akzenten durchsetzte Impulse formen eine leise, doch zugleich von einer unterschwelligen Spannung beherrschte Klangtextur, deren Ausdruck vielleicht den leisen und zugleich nervösen Bewegungen von kleinen Nagetieren vergleichbar ist. Dabei meint Schattenmusik keine direkte Umsetzung programmatischer oder visueller Aspekte in Musik, sondern ist mehr als metaphorischer Ausdruck zu begreifen, der die Annäherung an die Musik durch den Rückgriff auf verwandte Erfahrungen erleichtern kann. Wie Schatten indirekt auf etwas hinweisen, so fokussiert das Stück unterschiedliche Arten von Klängen, die eine herkömmliche,„lichtdurchflutete“ Klangwelt notwendigerweise begleiten, in deren Kontext aber oftmals unbeachtet bleiben: geräuschhafte Klangartefakte, dunkle Farbschattierungen oder minimale mikroharmonische Varianten. Wie ein Fotonegativ das Dargestellte als sein Gegenteil mit enthält, so ist auch die Gestik des Stückes als eine Art Abdruck einer traditionellen Dramaturgie gedacht. Zugleich ereignen sich plötzliche Umschläge in das gegenteilige Extrem, öffnen sich Türen zu Räumen aus vollen und leuchtenden Klängen.
Solcherart unerwartete Umbrüche durchziehen das ganze Konzert wie ein roter Faden. Sie verdanken sich einerseits dramaturgischenÜberlegungen einer expressiven Intensivierung durch Kontrastbildung, sind zugleich aber auch Ausdruck der verstörendenErfahrung, dass bestimmte Entwicklungen bis zu einem Point of no return voranzuschreiten scheinen, was vor allem in den drohenden Kipppunkten der Klimakrise eine brennende Aktualität erlangt.
In Maserung – 2022 als Hommàge an Iannis Xenakis entstanden – werden feingliedrige Texturen übereinander geschichtet und polyphon miteinander verschränkt, scheinen verschlungene, den Jahresringen eines Baumstamms ähnelnde Linien auf. Sie haben ihr zweifaches Vorbild in den faszinierenden Linien und Texturen von Xenakis‘ Musik und in vegetativenStrukturen, deren allmähliches Wachstum den Gestus der Musik in Maserung stärker prägt als die plötzlichen Umbrüche, die es gleichwohl auch hier gibt.
Doppelter Blick und Drei Farben: Grün entstanden während eines Stipendienaufenthalts auf demKünstlerhof Schreyahn im Jahr 2022. Das Duo Doppelter Blick spielt an auf die große Ähnlichkeit und essentielle Verschiedenheit derTasteninstrumente Akkordeon und Klavier und reflektiert Fragen von Identität und Individualität auf musikalischer Ebene, zeigt, wie das vermeintlich Gleiche auch dann immer anders leuchtet, wenn sich beide Positionen beinahe ununterscheidbar ähneln. Zugleich reflektieren die vielen punktuellenKlangereignisse die grundlegende Frage nach (musikalischer)Zusammenhangs-bildung, die in einer bisweilen unüberschaubar wirkenden Gegenwart auch über Musik hinausweist. Wann lassen sich kausale Verknüpfungen herstellen, wann stehen Klänge einfach nur in zeitlicher Nachbarschaft? Wo dominiert die Wahrnehmung einzelner Ereignisse, und wo schließen diese sich zu Linien oder Klangfelder zusammen? Wo verläuft die Grenze zwischen beabsichtigt und zufällig? Und wer entscheidet darüber?
„Komponieren heißt:ein Instrument bauen.“ Dieser Maxime Helmut Lachenmanns folgt Unter Verschluss für Klarinette, Violoncello und Klavier, indem die herkömmliche klangliche Idiomatik dieser Besetzung neu gedacht und in eine individuelle Klangstruktur verwandelt wird. Die in den berühmten Klarinettentrios von Johannes Brahms und Alexander Zemlinsky vorherrschende volle und dunkle Klanglichkeit wird dabei weitergetragen und gerade durch ihre Intensivierung zugleich auch verfremdet. Dies geschieht dadurch, dass Violoncello und Klavier über weiteStrecken des Stücks durch verschiedene Präparationen stark gedämpft werden. Nur die Klarinette behält ihre übliche, von Natur aus fahle Grundfarbe bei. In Unter Verschluss ist das Offensichtliche, Mittlere und Offene ausgespart. Der gedeckte, dumpfe und matteKlang ist vorherrschend, kann jedoch jederzeit in das scheinbar gegenteiligeExtrem des aggressiv Grellen umschlagen. Das Trio changiert dadurch nicht nur in ähnlicher Weise zwischen schattenhaften und satten Klängen wie die anderen Kammermusikwerke, sondern transformiert auch den romantischen Gestus der Musik von Brahms oder Zemlinsky in eine andersartige, aber dieser durchaus verwandteAusdruckswelt.
Drei Farben: Grün für Akkordeon solo besteht mehr als die vier vorhergehenden Werke aus statischen Klangfeldern, denen eineLiebe zum absichtslosen Verweilen zugrunde liegt. Die Zurücknahme erlaubt einNachhören einzelner Klänge und legt geringfügige Nuancen frei, die wirken, als wäre dieselbe Landschaft immer in unterschiedliches Licht getaucht. Durch die ausdauernde Fokussierung auf einzelne Klänge versucht die Musik, eine verlorengegangene Differenzerfahrung wiederzugewinnen. Das Insistieren auf einzelnen Klängen lässt unerwartete Wechsel von neuem zu einem Ereignis werden, und es entsteht eine Art Zentripetalkraft, ein Sog zu wiederkehrendenZentralklängen hin, der auch dann wirksam bleibt, wenn diese abwesend sind. DreiFarben: Grün ist gefärbt von den Landschaftsformen des Wendlands, ihrem charakteristischen Wechsel von Wiesen, Feldern, Baumhecken, freistehenden Bäumen und kleinen Wäldern. Und wenn auch in diese zurückhaltende, entlegene(Klang)Landschaft immer wieder heftige Klangmassen mit aller Wucht hereinbrechen, so zeigt sich darin, dass die Bereiche des Schönen keine gesicherten, umfriedeten Räume sind, sondern sie ihre fragile Existenz immer wieder von neuem verteidigen müssen – und dass gerade dies vielleicht den entscheidenden Quell ihrer Faszinationskraft ausmacht.
Tobias Schick